… Wie der Staat Frauenhandel und Prostitution fördert.”
Im Artikel dann eine Aneinanderreihung der Schicksale von vergewaltigten Osteuropäerinnen, Klischees von naiven “Pretty Woman”-Träumerinnen, Fotos von Kondomschälchen und Papierrollen und Werbesprüche aus Flatrate-Clubs (weil der saubere Bürger sich davor so hübsch gruseln kann), verdrehte, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus Sexworker-Beratungsstellen, offene Forderungen nach Prostitutionsverbot und Freierbestrafung, und eine erschreckende Abwesenheit von Fakten. Ehrlich, ich dachte, ich hab aus Versehen die Emma aufgeschlagen.
Als ich vor einigen Wochen Wind von den Recherchen bekam und mir die Suggestivfragen, mit denen die Beratungsstellen penentriert wurden, zugetragen wurden (Tenor: Das macht doch sowieso keine freiwillig), versuchte ich mehrfach und vergeblich, die zuständigen Journalisten und später deren Vorgesetzte zu kontaktieren, um ihnen im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung für ein Interview zur Verfügung zu stehen. Das Interesse war gleich null, ich bekam nicht einmal eine Antwort auf meine e-mails. Im Nachhinein betrachtet war das auch vermutlich besser so – was aus dem Interview der Kollegin Carmen aus Berlin gemacht wurde, berichtet sie eloquent in ihrem Blog.
Dabei war Carmens Interview noch das Highlight in einem Meer von noch viel größerem Schwachsinn rund um das Thema Prostitution im Heft. Konnte man aber gefahrlos so stehen lassen, denn “Es spricht viel dafür, dass sie [selbstbestimmte Sexarbeiterinnen] eine Minderheit sind, allerdings lautstark vertreten von wenigen Bordellbetreiberinnen und Hurenlobbyistinnen [...]“.
Natürlich wird der verschleppten Rumänin lediglich das politisch engagierte und kulturell gebildete Studentinnen-Escort entgegengestellt, um sie im gleichen Atemzug als wunderliche Exotin abzuwerten. Im Artikel kein Wort über die Masse an Huren, für die es ein Job ist, der je nach Arbeitsplatz, Kolleginnen und Kundenkreis den einen Tag angenehm und lukrativ und den anderen auch mal nervig ist. Klar – mit der unspektakulären Wahrheit lässt sich keine Auflage machen.
Was denn so alles (vieles) dafür spricht, dass unsereins die Ausnahme ist, würde mich sogar ganz ausserordentlich interessieren. Umfragen zur Ausstiegswilligkeit bei Klientinnen von Beratungsstellen, die als Schwerpunkt Ausstiegsberatung anbieten? Super – machen wir doch mal Interviews beim Arzt im Wartezimmer und schließen wir daraus, dass ganz Deutschland bald verreckt. Aussagen einzelner Polizisten, die sich mittels Dramatisierung unentbehrlich machen wollen? Die offiziellen Zahlen des BKA sagen etwas anderes aus. Wie der Mythos zustande kommt, dass selbstbestimme Sexarbeiterinnen “nicht repräsentativ” seien und warum das ein Fehlschluss ist, erklärt Wendy Lyon wunderbar in ihrem Blog.
Dass wir eine unbedeutende Minderheit in einem Sumpf von Gewalt und Verbrechen sind, ist allerdings ein ungemein wichtiges Argument sämtlicher Prostitutionsgegener: nur so kann man uns im Namen der Zwangsrettung all der armen, naiven Opfer über die Klinge springen lassen. Ein Mythos übrigens, den ich manchmal sogar aus meinem direkten Umfeld oder von meinen eigenen Gästen höre. So werbewirksam es wäre, wenn ich zustimmen würde, dass nur ich und wenige Auserwählte unseren Job mit Leidenschaft und Empathie erledigen – Blödsinn ist es trotzdem.
Ich bin jetzt seit knapp zwanzig Jahren Sexarbeiterin. Ich hab neulich mal überschlagen und festgestellt, dass ich im Laufe meiner Karriere vermutlich mit rund 1000 Kolleginnen aus aller Herren Länder so nahen Kontakt hatte, dass ich glaube, ihre Geschichte und Motivation einschätzen zu können. Davon wurden genau zwei als junge Frauen ausgebeutet. Die Zuhälter sind sie damals beide losgeworden, in der Sexarbeit sind sie als engagierte, selbstbestimmte Huren geblieben. Alle, die ich kennengelernt habe, haben zu dem Zeitpunkt ihren Job freiwillig gemacht, mal mehr und mal weniger enthusiastisch, wie Menschen in jeder anderen Branche auch. Aber ach, ich vergaß: vermutlich ist auch mein Kolleginnenkreis – tada – nicht repräsentativ.
Vielen Dank, lieber SPIEGEL, nun sind wir wirklich alle ausnahmslos Opfer – von grottenschlechtem Journalismus.
P.S.: Über die mir bereits zugetragenen Abo-Kündigungen habe ich mich sehr gefreut. Das Geld ist als Spende für sexwork-deutschland.de besser aufgehoben!
Weiterführende Artikel mit schmutzigen Details & harten Fakten:
Stellungnahme der Frankfurter Beratungsstelle Dona Carmen
Menschenhandel heute: “Bordell Deutschland – Journalismus auf Lücke”
Rechtsanwalt Thomas Stadler: “Der SPIEGEL und die hohe Kunst des Tendenzjournalismus”